Diesen Aufruf unterzeichnete ich am 19. September 1989 in der Wohnung von Bärbel Bohley in Berlin - Prenzlauer Berg

Aufbruch 89 - Neues Forum

Gründungsaufruf des Neuen Forums.

 

In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen diesen Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein.

Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.

In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt. Im privaten Kreis sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet und nennt die ihm wichtigsten Maßnahmen. Aber die Wünsche und Bestrebungen sind sehr verschieden und werden nicht rational gegeneinander gewichtet und auf Durchführbarkeit untersucht. Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden; aber niemand soll auf Kosten anderer krank feiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden.

Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgabe des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,

- daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen      

   Reformprozeß mitwirkt,

- daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem

   Gesamthandeln finden.

Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen

 

                                                 NEUES FORUM.

 

Die Tätigkeit des NEUEN FORUM werden wir auf gesetzliche Grundlagen stellen. Wir berufen uns hierbei auf das in Art. 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen. Wir werden die Gründung der Vereinigung bei den zuständigen Organen der DDR entsprechend der VO vom 6. 11.1975 über die "Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen" (GB1I, Nr. 44, S. 723) anmelden.

Allen Bestrebungen, denen das NEUE FORUM Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des NEUEN FORUM zu werden.

                                               Die Zeit ist reif.

Artikel aus der "Märkischen Allgemeinen" 10 Jahre nach der Wende

 

 

vom 16.11.2009 (leicht gekürzte Fassung)

 

GESCHICHTE:             Vom Parteifunktionär zum „Staatsfeind“

 

Wie und warum der Kyritzer Joachim Böttcher sich ab 1989 beim Neuen Forum engagierte

 

KYRITZ –

Es ist eine fast typische DDR-Karriere, die der heute 66-jährige Joachim Böttcher aus Kyritz durchlaufen hat: Abschluss der Schule mit der 10. Klasse, danach Berufsausbildung mit Abitur in der Landwirtschaft, Abschluss von Studien als Ingenieur für Landtechnik und Diplom-Gesellschaftswissenschaftler.

 

Bis 1974 war der Mann auch in verschiedenen Betrieben in der Landwirtschaft tätig, ehe das SED-Mitglied (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) 1974 gebeten wurde, ein Jahr lang als 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung (Freie Deutsche Jugend) Nauen zu arbeiten. Drei Jahre wurden daraus. Weitere Stationen waren die Abteilung Landwirtschaft der SED-Kreisleitung Nauen, die SED-Bezirksleitung Potsdam und ab dem Frühjahr 1983 die SED-Kreisleitung Kyritz. Böttcher wurde hier Sekretär für Landwirtschaftspolitik.

 

Als im September 1989 massenhaft vor allem junge Menschen das Land über Ungarn oder über Botschaften wie die in Prag verlassen, stellen sich dem Noch-SED-Mitglied viele Fragen, wie: „Was haben wir falsch gemacht, wenn uns unsere Bürger verlassen wollen? Wer stellt die Frage an die Gesellschaftswissenschaftler? Wer kritisiert unsere Wirtschaftswissenschaftler, die ein ökonomisches System des Sozialismus nicht immer wieder kritisch infrage stellen, um so zu einer höheren Effizienz zu gelangen? Warum laufen die jungen Menschen weg, die durch unsere Schulen und gesellschaftlichen Organisationen gegangen sind?“

 

Böttcher fehlt in den Medien eine angemessene Reaktion auf die Ereignisse. Er schreibt deshalb u. a. an Zeitungen wie „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“ sowie an das DDR-Fernsehen. Bewegt hat er damit nichts. Am 19. September fährt er zu einer Weiterbildung der Computer-AG nach Berlin. Dabei nimmt er telefonisch Kontakt zu Bärbel Bohley auf und besucht sie noch am gleichen Tag in ihrer Wohnung. Die wird bereits rund um die Uhr von der Staatssicherheit überwacht, wie sich später herausstellt. Dort unterschreibt er den Aufruf des Neuen Forums und nimmt ein Exemplar mit nach Kyritz, um es hier publik zu machen.

 

Das führt dazu, dass Böttcher Anfang Oktober aus der SED ausgeschlossen und auch als Betriebsleiter des Trockenwerks beurlaubt wird. Begründet wird beides mit seiner staatsfeindlichen Betätigung.

 

Böttcher beginnt am 25. Oktober 1989 seine Mitarbeit in einer der zentralen Gruppen des Neuen Forums in Berlin, die sich mit ökonomischen Fragen und Problemen der Wirtschaft in der DDR befasst. Die zweite Beratung ist am 9. November. Als er kurz vor Mitternacht nach Hause fährt, sieht er an der Grenzübergangsstelle in der Warschauer Straße einen Menschenauflauf. „Während Tausende in Richtung Grenze unterwegs sind, verlasse ich Berlin. Von der Maueröffnung in dieser Nacht hatte ich absolut keine Ahnung“, sagt er.

 

Das Neue Forum hatte innerhalb kurzer Zeit in Kyritz 70 Mitglieder. Zu den ersten gehörten neben Böttcher der bereits verstorbene Hans-Detlef Clason, Günter Lapschies, Hans-Jürgen Adam, Gerhard Masuhr und Hans Schlicht. Ende 1990 stellt es in Kyritz seine Tätigkeit ein.

 

Böttcher wird zuvor in dem Jahr in den Kyritzer Kreistag gewählt. Für den Kreistag Ostprignitz-Ruppin kandidierte er später nicht mehr. Damit war seine politische Betätigung zu Ende. Das Interesse an allem Politischen ist aber wie gesagt geblieben. Böttcher ist jetzt bereits im Rentenalter, betreibt aber nach wie vor seine im Jahr 1990 gegründete Computer-Firma. (Von Detlef Czeninga)